New Actonomy

Florian SchneiderMail link

Fangen wir so an: Dass die Welt im Umbruch ist, fiel für einige Zeit gar nicht besonders, und wenn dann nur positiv auf - zumindest solange, als die Überwindung des Kalten Krieges große Hoffnungen weckte, der Boom der New Economy seine Schattenseiten verdeckte und die postmoderne "Spaßgesellschaft" nichts als gute Laune verbreitete. Heute mehren sich jedoch die Anzeichen, dass unter dem Deckmantel von Digitalisierung, Informatisierung und Globalisierung eine Vielzahl politischer, kultureller, ökonomischer und sozialer Konflikte brodelt, deren Ausmaß und Tragweite bei weitem noch nicht abzusehen sind.

Seattle, Melbourne, Prag, Nizza, Davos - gerade kam Quebec hinzu und bald geht es nach Genua, wo Ende Juli der Weltwirtschaftsgipfel stattfindet, und Qatar, wo die nächste WTO Runde und ein globaler Aktionstag ausgetragen werden. Auf den ersten Blick und fast überall, ausser vielleicht in Deutschland, hat es den Anschein, als würde eine neue globale Protestgeneration auf den Plan treten, die es ausgerechnet mit der von 1968 aufzunehmen hat.

Niemand aber macht sich Illusionen:

Das Feld des Politischen ist in Tausende von Einzelbildern zerfallen, und trotzdem bricht sich ausgerechnet in diesem Durcheinander ein Aktivismus mit neuartigen politischen Artikulations- und Handlungsweisen Bahn. Gemeinsam ist diesen Ansätzen

Was also hat sich verändert?

  1. Früher ging es darum, die Menschen irgendwo einzusperren, um sie zu disziplinieren (Schule, Militär, Fabrik, Krankenhaus). Heute finden Kontrollen praktisch in Echtzeit und überall statt. In allen politischen, sozialen, kulturellen Bereichen lösen Techniken der Vernetzung die bisherigen Techniken der Machtausübung ab. Chipkarten, biometrische Systeme, elektronische Halsbänder etc. regeln den Zugang zu proprietären, privilegierten oder sonst wie abgeschotteten Bereichen. Grenzen sind in diesem Zusammenhang einem besonderen Bedeutungswandel unterworfen: An der Grenze geht es heutzutage um den Abgleich der Nutzerprofile, statt Ein- oder Ausschluss: Vernetzung wider Willen
  2. Es gibt kein Außen mehr und damit ist auch der archimedische Punkt der Kritik dahin, sich genau auf der Grenze niederzulassen und einen Blick auf die Verhältnisse zu riskieren, ohne wirklich Teil der Auseinandersetzungen zu sein. Die "Neue Linke", wie sie aus den studentischen Milieus der 60er und 70er Jahre entstanden ist, hatte ihre Ideologiekritik aus dieser sicheren Position aus betrieben. Kein Wunder, dass die Reste dieser Protestkultur sich heutzutage vor allem dadurch hervortun: Jammern, Maulen und - wenn es richtig radikal wird - anderen ein schlechtes Gewissen machen.
  3. Arbeit, die nicht berechenbar und messbar ist nun wirklich nichts neues. Entscheidend ist aber ihre Bedeutung für den Produktionsprozess. Das was Michael Hardt und Toni Negri "Affektindustrie" nennen, umfasst die Arbeit in Krankenhäusern und an Filmproduktionen, in Softwareklitschen und Kindergärten, in Unterhaltungskonzernen und Altenheimen. Klassische Reproduktionsarbeit, deren Ziel darin besteht, Gefühle hervorzurufen, Emotionen zu erzeugen, Wohlbefinden auszulösen. Die aktuelle Entwicklung der Affektindustrie eröffnet eine biopolitische Dimension, in der das rätselhafteste, was es auf der Welt gibt, Leben selbst zum Gegenstand der Produktion wird.
  4. Nahezu alle Gesetzmäßigkeiten politischen Denkens und Handelns sind heute mehr oder weniger radikal in Frage gestellt. Nötig ist eine völlige Neubestimmung der politischen Praxis und ihre Theoretisierung. In diesem Zusammenhang ist es ausgesprochen spannend, nicht alle Erkenntnisse über Bord zu werfen, sondern im Gegenteil:
    • Erfahrungen aus anderen historischen Umbruchsituationen zu untersuchen oder zu rekapitulieren.
    • neue Begrifflichkeiten entwickeln und alte neu füllen
    • Kämpfe miteinander kommunizieren zu lassen, und zwar gleich ob sie alt oder neu sind, wo sie physikalisch stattfinden und wie sie enden werden.

Widerstand kommt immer vor der Macht und "Sabotage" kommt von Sabot, einem heimlich in die Maschine eingeschleusten Holzschuh, der die Produktion vorübergehend blockiert. Diese Unterbrechung zielt darauf ab, die Effizienz der Maschinen soweit zu verringern, dass der entstehende materielle Schaden konkreten Forderungen oder einem allgemeinen Unwillen über die Ausbeutungsverhältnisse Nachdruck verleiht. Klassische Sabotage, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, konnte drei Formen annehmen:

  1. durch eine Verringerung der Arbeitsleistung die Quantität oder
  2. durch das Einbringen spezifischer Kenntnisse die Qualität der Produktion attackieren, aber auch
  3. die Verkäuflichkeit einer Dienstleistung beeinträchtigen.

Wie der reguläre Streik zielt die Sabotage unmittelbar auf den Profit des Unternehmens ab, um die Erfüllung bestimmter Bedingungen zu erreichen. Vor allem dann, wenn Arbeitern das Streikrecht versagt, entzogen oder unbrauchbar gemacht wurde, war Sabotage ein verbreitetes, wenngleich illegales Mittel innerbetrieblicher Auseinandersetzungen. In den aktuellen politischen Auseinandersetzung gibt es eine Reihe von Parallelen zur Situation Ende des vorletzten, Anfang des letzten Jahrhunderts.

Meine These lautet: Aktuelle Aktionsformen versuchen eine Neubestimmung von Sabotage als sozialer Praxis und zwar nicht in herkömmlichen, destruktiven Sinne, sondern als eine konstruktive innovative und kreative Praxis.

Diese Konstruktivität ist eine organisationslose Bewegung in vielen verschiedenen Perspektiven - selbstbestimmtes, vernetztes Denken, das ausdrücklich verschiedene Herangehensweisen und Verknüpfungen vorantreibt, als soziale Auseinandersetzung sich unmittelbar auf die Produktionsebene bezieht und konstitutiv ist für einen kollektiven Aneignungsprozess von Wissen und Macht.

Ich sehe im Moment drei Ebenen des vernetzten Aktivismus:

  1. Vernetzung innerhalb einer Bewegung
    • die Übersetzung vom analogen ins digitale Medium: also Mailinglisten und die Kommunikation darauf, davor und dahinter. Webseiten, die als nützliche Handreichung oder Archiv für die Aktivisten selbst konzipiert sind.
    • Diese primäre Form der Vernetzung führt zur Bildung von virtuellen Gemeinschaften, die sich von den Offline-Communities gar nicht mal so sehr unterscheiden ausser in dem Punkt, dass die Menschen nicht mehr notwendigerweise physikalisch treffen müssen, aber sehr oft hinterher dann genau das umso öfter, umso lieber, umso bewusster tun.
    • Es führt aber auch dazu, Schritt für Schritt den praktischen Nutzen der neuen Technologien zu erforschen und zu erweitern
  2. Schnittstellen zwischen Bewegungen
    Hier geht es darum Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen zu vernetzen. Es geht um inspirierende und motivierende Umgebungen, in denen neue Formen von Aktivität erforscht und entwickelt werden können. Kampagnen, Meta-Datenbanken, verteilte Aktivitäten, die an den Schnittstellen angesiedelt sind zwischen Online- und Offline-Welt. Insofern es um Interfaces geht, werden auf dieser Ebene werden erstmals Fragen der Subjektivität und Interaktivität aufgeworfen: Support
  3. Virtuelle Speicher für unberechenbare und unkalkulierbare Bewegungen Auf der dritten Ebene des Netzaktivismus geht es darum, das Netz im Gegenzug als Plattform für rein virtuelle Auseiandersetzungen zu nutzen, die sich nicht länger auf eine romantische Offline-Wirklichkeit beziehen:
    • E-Protest wie Online-Demonstrationen
    • Elektronischer ziviler Ungehorsam
    • immaterielle oder digitale Sabotage als Resultat kommender sozialer Auseinandersetzungen. Ein Oxymoron, das aber ein enormes Potential birgt.

Ten rules for the new actonomy

Wenn heute irgendetwas wirklich tot ist, dann ist das politischer Reformismus. Einfach weil es zu spät ist. Die zuletzt liberal-grüne Idee eines Kapitalismus, der von innen heraus verändert werden kann, hat sich erledigt. Globale System befinden sich in einem Zustand permanenter Revolution. Niemand kann da mehr mithalten, weder Konzerne und erst recht nicht Institutionen. Diese Tatsache hat die Baby-Boomer-Generation zu solchen Kontroll-Freaks mutieren lassen. Doch es gibt keine Zeit für dezentes Planen, Politik hat sich reduziert auf panische Reaktionen.

  1. Ein Ziel setzen, das innerhalb von drei Jahren erreicht und innerhalb von 30 Sekunden formuliert werden kann
    Aktivistinnen und Aktivisten konzentrieren sich auf das schwächste Glied in der Kette, das schließlich die gesamte Stärke eines Systems ausmacht. Die New Actonomy besteht aus Tausenden von kleinen und kleinsten Aktivitäten, die alle für sich selbst genommen äußerst bedeutsam sind, die selbst organisiert sind und selbstverständlich nachhaltig. Hierfür brauchen wir keinen Generalplan, und erst recht keine Partei oder Organisation. Es reicht völlig, die neuen Dynamiken zu verstehen und auszunutzen.
  2. Ebenso präzise wie bescheidene Forderungen aufstellen, die dem Gegner einen Schritt zurück gestatten, ohne das Gesicht zu verlieren
    Die sozialen Bewegungen des letzten Jahrhunderts haben es mit dem Nationalstaat aufgenommen und dessen Macht streitig gemacht. In der New Actonomy kämpfen die Aktivisten vornehmlich gegen Konzerne und gegen eine neue Form globaler Souveränität und wohlgemerkt: nicht gegen Globalisierung. Ziel ist nicht mehr, die Macht zu erlangen, sondern die Art und Weise zu bestimmen, wie sich Dinge verändern und warum. Nennen wir es semiotische Guerilla: Im Prinzip sogar nur noch darum, Macht so lächerlich erschienen zu lassen, dass sie problemlos in den Händen derer verbleiben kann, die sie besitzen.
  3. So viele Intentionen, Motivationen und Begründungszusammenhänge wie möglich erfinden und verbinden
    Aktivisten wählen heutzutage vielschichtige, vielfältige und vielstimmige Ausdrucksweisen, die weit über das eigentliche Ziel der jeweiligen Kampagne oder einer konkreten Auseinandersetzung hinausschiessen. Dies birgt Einsichten und Bereicherungen, die weit über das hinausreichen, was gerade im Moment zugänglich scheint.
  4. Die Botschaft mit allen zur Verfügung stehenden Logiken, Werkzeugen und Medien kreieren und verbreiten
    Die New Actonomy besteht vor allen Dingen aus einer rigorosen Vernetzung aller bestehender Aktivitäten. Deren Verschiedenheit wiederum fordert dazu heraus, nicht-hierarchische, dezentrierte und deterritorialisierte Anwendungen zu erfinden und miteinander zu verknüpfen. Eine Idee kann als Content-Virus über Nacht Millionen erreichen, wenn sie gut genug durchdacht und designt ist, um auf einer Reise durch Zeit und Raum in einer Vielzahl kultureller Kontexte zu verfangen.
  5. Effizienzdenken - den Stab und die Infrastruktur auf Seiten des Gegners nutzen
    Aktiv sein in der New Actonomy heißt: Kosten sparen und direkt auf den Punkt kommen. Eine Kampagne muss höchsteffizient sein und nicht nur auf der eigenen Stärke beruhen, sondern auch die Kräfte aller Verbündeter und Gegner einbeziehen. Outsourcing ist eine Waffe. Es heißt einfach nur, jemand anderen die Probleme zu überantworten, die ich selbst nicht am besten lösen kann.
  6. In einem klar umrissenen Raum mit einer eindeutig bestimmten Kraft agieren
    Dramaturgie ist eine Selbstverständlichkeit. Eine Kampagne besteht aus klar umrissenen Episoden mit einem Anfang und einem Ende, einer sanften oder harschen Eskalation und einem finalen Showdown. Wichtig ist, die Gesetzmäßigkeiten des Auftauchens, Verschwindens und Wiederkehrens zu akzeptieren. Eine Kampagne findet an einer Vielzahl von Orten statt und verweist von daher in durchaus positiver Manier auf Globalität und Globalisierung. Aber eine Globalisierung, die nicht leer ist, kein grenzenlos erweiterter Markt, sondern voller Energie von Menschen.
  7. Sich nicht erpressen lassen. Wenn der Gegner in die Offensive zu gehen versucht, einen Schritt zur Seite oder nach vorne machen
    Machen wir uns nichts vor: Niemand braucht Cyberhelden. Die Antwort eines Konzerns mag härter sein, als ursprünglich erwartet. Es könnte also mitunter besser sein, einer direkten Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Was aber unter allen Umständen zu vermeiden ist: sich auf die Medien oder andere Vermittler zu verlassen. Dann lieber eine Stufe kleiner! Besser sich selbst minorisieren, als dass es der Gegner tut.
  8. Von den Vorzügen der Virtualität
    Es geht weder darum, sich selbst zu überzeugen noch den Gegner. Warum es geht, ist diejenigen zu gewinnen, die an der Auseinandersetzung noch nicht teilnehmen. Die Herausforderung besteht darin, Ressourcen zu benutzen, die einem vielleicht nicht selbst gehören, sondern vielleicht einfach nur praktisch oder virtuell verfügbar sind. In diesem Sinne mag die Revolution nichts anderes sein als ein Redundant Array of Independent Devices - Kampagnen und nie endender Aktivitäten
  9. Subjekt-orientierte Kampagnen
    Viele Menschen reden heutzutage in Zusammenhang mit den Aktivitäten der sogenannten Globalisierungsgegner von einem globalen Aufstand, der gerade erst begonnen hat und sicherlich nicht darauf beschränkt belieben wird, den drei Abkürzungen WTO, IWF und Weltbank hinterherzulaufen und Straßenschlachten vor Kongresshallen anzuzetteln. Die brennende Frage der Bewegung aber lautet: Welche neuen Formen von Subjektivität werden aus den gegenwärtigen Kämpfen entstehen? Wenn schon alle wissen, was zu tun ist, wer weiß schon noch, wofür eigentlich gekämpft wird und warum? Aber vielleicht spielt das gar keine Rolle mehr: Vernetzter Aktivismus ist von betörender Fragilität. Es bedeutet: alle Ziele andauernd zu revidieren und neu zu definieren.
  10. The revolution will be open source or not
    Selbstbestimmung ist etwas, was geteilt werden kann. Sobald man auf einem bestimmten Gebiet eine gewisse Stärke verspürt, kann man diese produktiv machen als ein positives, kreatives und innovatives Vermögen. Diese Macht birgt schier unglaubliche Möglichkeiten und produziert wieder und wieder unerwartete und unkalkulierbare Effekte.


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