Demokratisierung wissenschaftlicher Information

Wolf-Andreas LiebertMail link

Das Scheitern der massenmedialen Wissenschaftsvermittlung und die OpenSource-Kultur

Häufig wird gefordert, dass wissenschaftliches Wissen, insbesondere naturwissenschaftliches Wissen an die Öffentlichkeit durch die Medien vermittelt werden müsse, damit die Öffentlichkeit in gesellschaftlichen Entscheidungssituationen, etwa bei der Durchsetzung von Ozongrenzwerten oder dem Verbot von Treibhausgasen mitdiskutieren und entscheiden könne. Diese Forderung hat zur Voraussetzung, dass die Öffentlichkeit durch die bestehenden medialen Systeme der Wissenschaftsvermittlung überhaupt informiert werden kann. Diese Voraussetzung ist jedoch zu hinterfragen. Ich habe dazu insbesondere die letzten 15 Jahre der Ozonlochdiskussion in den Zeitschriften Bild der Wissenschaft und DIE ZEIT ausgewertet (Liebert 2001). Mein Fazit aus dieser Untersuchung ist, dass es letztlich nicht möglich ist, die Bevölkerung über die kommerziellen Massenmedien so zu informieren, dass sie an den gesellschaftlichen Entscheidungen über Technik- und Wissenschaftsentwicklungen kompetent partizipieren kann (s. auch Bell 1991 und Niederhauer 1999). Die Vermittlung und Aneignung von Wissenschaft muss vielmehr in alternativen Öffentlichkeiten stattfinden. Da das Internet die einzige Möglichkeit bietet, ohne staatliche Lizenzierung und ohne größere Ressourcen an Produktionsmitteln eine eigene Öffentlichkeit aufzubauen, zeichnen sich solche virtuellen Öffentlichkeiten bereits seit den 80er Jahren ab. Solche "Paralleluniversen", wie Andy Müller-Maguhn solche relativ autonomen, aber offenen Kommunikationsräume nennt (vgl. seinen Oekonux-Beitrag auf dieser Seite), bestehen bereits heute in der OpenSource-Kultur. Es existiert hier eine vielfältige Kultur aus kostenlosen, mehrsprachigen Wörterbüchern oder Enzyklopädien, die in einem globalen Kooperationprozess ständig bearbeitet werden. NupediaRemote link, WikipediaRemote link und die Encyklopaedia ApertaRemote link sind Beispiele dafür. Neben den OpenSource-Enzyklopädien gibt es noch eine Fülle weiterer Projekte, die enzyklopädischen Charakter besitzen, so zum Beispiel die Projekte von Heiner BenkingRemote link oder Kim VeltmanRemote link.

Im Rahmen der OpenSource-Kultur könnte auch ein gemeinsamer Kommunikationraum zwischen wissenschaftlichen Akteuren und Laienakteuren entstehen, der unabhängig von den Verwertungszwängen des proprietären Mediensystems funktioniert. Diese Idee soll im Folgenden weiter entwickelt werden.

Meiner Ansicht nach gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder die Bevölkerung informiert sich außerhalb der Medien selbst. Dies funktioniert bei bestimmten Problemen sehr gut, wenn man etwa an die Aids-Aktivisten-Szene in den USA denkt oder das Sich-Kundigmachen von Bürgerinitiativen im Rahmen des deutschen Kernenergiekonflikts.

Oder die Wissenschaft muss von sich aus eine Öffentlichkeit unter Rahmenbedingung herstellen, die weder auf die traditionellen journalistischen Textmuster und ihre stereotypen Vorstellungen zurückgreift, noch von den ökonomischen Rahmenbedingungen des kommerziellen Mediensystems abhängig ist.

Wie dies aussehen kann, möchte ich nun anhand der Idee einer "Enzyklopädie der Wissenschaften" entwickeln.

Eine Utopie der Wissenschaftsinformation

In der utopischen "Enzyklopädie der Wissenschaften" wird Wissen langfristig, kontinuierlich und zielgerichtet an Brennpunktthemen und der inhaltlichen Struktur der Laienanfragen ausgerichtet.

Da für die Brennpunktthemen von den Wissenschaftlern auch Zielwissen definiert wird, d.h. das Wissen, was sie als notwendig für eine gesellschaftliche Entscheidung betrachtet, kann es natürlich zu Konflikten mit dem von der Laienöffentlichkeit formulierten Wunschwissen kommen. Diese Konflikte müssen moderiert werden. Wie dies im Einzelnen geschehen soll, kann ich nicht sagen. Zentral ist aber, beiden Perspektiven - Laienöffentlichkeit und Wissenschaft - Raum zu verschaffen, damit das System weder zur Verkündigungsmaschine noch zur reinen Dienstleistung degeneriert.

Nichtkommerzialität, d.h. insbesondere uneingeschränkter Zugang zur "Enzyklopädie der Wissenschaften" ist eine notwendige Voraussetzung, um frei für das Schreiben von Vermittlungstexten jenseits einer Textoptimierung nach Kriterien der Gewinnmaximierung zu sein.

Das schließt aber nicht aus, dass Personen diese Enzyklopädie nutzen, um Bücher oder Artikel zu schreiben und im kommerziellen Rahmen zu verwerten.

Dazu kann man die Texte unter die GNU Free Documentation LizenzRemote link bzw. eine ihrer Varianten stellen, die es u.a. erlauben würde, Texte zu übernehmen, zu verändern und zu verkaufen mit der Verpflichtung, die so produzierten Texte selbst wieder der gleichen Lizenz zu unterstellen und damit das Wissen für alle frei zugänglich und weiter verwertbar zu halten.

Diesen Entwurf möchte ich nun noch etwas weiter erläutern.

Die Enzyklopädie der Wissenschaften

Allgemeiner Aufbau

Eine Enzyklopädie der Wissenschaften muss von Anfang an mehrsprachig bzw. international angelegt sein. Die Internationalität ergibt sich zunächst aus den Gegebenheiten des Fachdiskurses, der bei den meisten Wissenschaften eben international ist. Die Sprache ist dort in der Regel Englisch. Man hätte hier schon einen gewissen Mehrwert gegenüber den herkömmlichen Medien, da auch Wissenschaftsjournalisten in qualitativ hochstehenden Wissenschaftsredaktionen selten den internationalen Fachdiskurs berücksichtigen.

Neben dem internationalen Fachdiskurs gibt es aber auch einen deutschsprachigen Teil, d.h. es gibt deutsche Akteure, z.B. Forschungseinrichtungen wie die DFG, aber auch deutsche Fachzeitschriften, Kongresse, Sammelbände etc. Dieser deutschsprachige Teil ist aber nicht vom internationalen Fachdiskurs getrennt. Deshalb können nationale Wissenschaftsakteure auch Einfluss auf den englischen Teil der Enzyklopädie nehmen.

Die Internationalität ergibt sich aber auch aus dem Adressatenkreis: Durch eine prinzipielle Beschränkung auf eine Sprache wie das Deutsche oder das Englische werden viele Menschen von der Benutzung ausgeschlossen. Es wäre meiner Ansicht nach auch ein Fehler, einfach von Englisch als einer lingua franca auszugehen und nun nur noch in Englisch zu publizieren. Internationalität ist deshalb für mich das entscheidende Stichwort. Die Enzyklopädie darf natürlich von der Anlage her nicht auf Deutsch und Englisch beschränkt sein, auch wenn sie damit beginnen könnte.

Laienakteure

Die Rolle der Laienakteure ist es zunächst, das Wunschwissen zu formulieren, d.h. das Wissen, das sie benötigen, um Gefahren abschätzen, ihren Horizont zu erweitern, oder an einer gesellschaftlichen Entscheidung partizipieren zu können. Dies kann über Abstimmungen über Brennpunktthemen geschehen, als deren Ergebnis etwa ein Thema wie das Ozonloch bzw. die Gefahren, die durch das Ozonloch entstehen, bearbeitet werden könnte.

Da in den Hintergrund des Laieninteresses geratene Brennpunktprobleme kontinuierlich weiter bearbeitet werden, können die Laienakteure die Archive der Enzyklopädie bei einem Informationsbedarf auch später noch nutzen. Die Anfragen der Laienakteure (bzw. die Auswertung der inhaltlichen Schwerpunkte der Anfragen) sollten indirekte Steuerungshandlungen darstellen, die mittelfristig dazu führen, die Inhalte der Enzyklopädie anzupassen.

Wissenschaftliche Akteure

Die Aufgabe der wissenschaftlichen Akteure ist es, das Zielwissen für Brennpunktthemen festzulegen und in die Diskussion einzubringen. Weiterhin müssen sie in relativ kurzen Abständen eine Akkuratheitsprüfung der Enzyklopädie bzw. der Teile, die sie betreffen, durchführen. Dadurch können neue Ergebnisse aufgenommen, neue Argumente zu den einzelnen Diskurspositionen hinzugefügt werden. Da die Akkuratheitsprüfung von vielen Akteuren des über die ganze Welt verstreuten internationalen Fachdiskurses durchgeführt wird, enthalten die Vermittlungstexte fachlich akkurates und aktuelles Wissen.

Wissenschaftsjournalisten/Journalisten

Die Wissenschaftsjournalisten und Journalisten spielen innerhalb dieses Szenarios eigentlich keine neue Rolle, außer dass sie nun keine Verantwortung für eine generelle Information der Bevölkerung über wissenschaftliche Themen mehr tragen. Die Enzylopädie kann weder die Zeitung, noch irgendein anderes journalistisches Produkt ersetzen. Vorhin wurde ja herausgestellt, dass das journalistische Handlungsmuster, das mit der Story konstituiert wird, gerade ungeeignet für die langfristige, kontinuierliche und diskursive Wissenschaftsvermittlung ist.

Das Textmuster eines Enyklopädieartikels ist hier angemessener. Enzyklopädieartikel sind aber keine Textsorten, die in den journalistischen Medien von Bedeutung sind. Insofern kann diese Enzyklopädie gar keine Konkurrenz, sondern nur eine (notwendige) Ergänzung zu den bisherigen Medienprodukten sein.

Die Sprachversionen

Die verschiedenen Sprachversionen der Enzyklopädie müssen permanent parallelisiert werden, ein Problem, das in den EU-Institutionen bestens bekannt ist. Die englische Version könnte als Masterversion benutzt werden, insbesondere dann, wenn viele Sprachen dazu kommen sollten. Man müsste sich auch ein Konzept dafür überlegen, wie man einmal angelegte Bild- und Animationsressourcen für die verschiedenen Sprachversionen wieder verwenden kann.

Veränderung der Kommunikationsstruktur

Wenn ein Informations- und Mediationssystem wie die "Enzyklopädie der Wissenschaften" eingerichtet wird, verändern sich die Kommunikationsstrukturen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.

In der bisherigen Kommunikationsstruktur fließen relevante Informationsflüsse nur über die Massenmedien und erzeugen die bisher besprochenen Defizite strukturell, d.h. nicht behebbar.

Wenn die wissenschaftlichen Akteure dagegen selbst eine Öffentlichkeit schaffen, etwa über ein Informations- und Mediationssystem im Internet, verändert sich die Kommunikationsstruktur, da nun ein direkter Informationsfluss zur Laienöffentlichkeit aufgebaut wird, der von beiden Seiten unabhängig von den Gegebenheiten und Interessen der medialen Akteure gestaltet werden kann.

In dieser Konstellation, so utopisch sie jetzt auch sein mag, sehe ich außer der direkten Laienintervention, die einzige Möglichkeit, wie größere Bevölkerungsteile einen echten Zugang zum Sprachspiel der Naturwissenschaften erhalten können, um bei Diskussionen und Entscheidungen, die sich dann in der politischen Arena abspielen, besser eingreifen zu können.

Schlussbemerkung

Ausgangspunkt war die Annahme, dass das gegenwärtige Mediensystem, so wie es ist, und wie es sich entwickelt, aus strukturellen Gründen nicht in der Lage ist, größere Teile der Bevölkerung so zu informieren, dass sie bei wichtigen wissenschaftspolitischen Entscheidungen kompetent mitsprechen können. Betrachtet man dies jedoch als wichtiges politisches Ziel in Demokratien, in denen Wissenschaft eine zentrale Rolle spielt, dann müssen andere Wege gefunden werden, dieses Ziel zu erreichen. Ein solcher Weg wurde am Ende vorgeschlagen: die "Enzyklopädie der Wissenschaften" Die "Enzyklopädie der Wissenschaften" ist ein utopisches Projekt, bei dem sich Wissenschaft und Gesellschaft global vernetzen. Dabei entsteht gemeinsames Wissen, das von allen kostenlos genutzt und weiter verwertet werden kann. Ob dieses Projekt funktionieren würde, ist ungewiss. Deshalb möchte ich mit dem Wunsch schließen, dass sich die Enzyklopädie der Wissenschaften auf ebenso wundersame Weise entwickeln werde wie andere OpenSource-Projekte auch.

A. Bibliographie

Bell(1991)

DiBona et-al. (1999)

Liebert(2001)

Niederhauser(1999)


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